Die Russen gehen. Ein Nachruf.

Lange Zeit habe ich Flüche und Gebete nach oben gerichtet. Denn dort wohnte der Russe.

Ich habe nichts gegen Russen. Also prinzipiell nicht. Auf dem humanistischen Gymnasium wurde mir beigebracht, dass jedes Volk im Verhältnis 90 zu 10 aus Asozialen und Nicht-Asozialen besteht. Und man solle immer davon ausgehen, dass man einen von den 10 vor sich hat. Ich weiß: das muss auch für Russen gelten. Es ist halt nur so, dass ich keine Russen kenne, die nicht laut und erheblich verstörend auf mich wirken und einwirken.
Liebe russische Mitmenschen – ich sage hier "der Russe" und meine lediglich meine Nachbarn. Bestimmt.

Mein Martyrium begann am Tage ihres Einzugs, bzw. in der dazugehörigen Nacht. Was der gemeine Canide, also der Hund als solcher, gern mit Urin tut, macht der Russe mit Lärm. Er markiert sein Gebiet.
Ein Bollern und Poltern, ein Schaben und Quietschen, kurzum: ein unfassbares Ramentern erfüllte die Nacht. Auch ich bin der Motte ähnlich und will mein Tagewerk gern des Nachts tun und ließ somit Geduld walten. In der kommenden Nacht aber wollte ich dem unheiligen Treiben ein Ende setzen. Zumindest zur Nachtzeit. Ich wusste nun, dass sie dort wohnen, sie brauchten nicht mehr markieren.
Um 2 Uhr klingelte ich an ihrer Tür, nachdem ich meinen unbändigen Hass unter einem Vorwand grade noch in meiner Abstellkammer einschließen konnte. Als die Tür sich öffnete, standen mir zwei Trümmerfrauen gegenüber. Er mit einem Mottek bewährt, sie mit einem Putzlappen. Beide waren um Mitte 20, vollends mit Staub bedeckt und guckten wie neugeborene Rehe.
"Samma, geht's noch? Mal auffe Uhr geguckt?", begann ich in meiner friedliebenden Art den Dialog.
"Hm? Was denn? Wir waren das nicht.", beendeten sie diesen im Handumdrehen wieder.
Ich sah sie noch einen Moment an, suchte nach zumindest einem Wort als Reaktion, fand keins, suchte wieder, und ging wortlos.

Da sie es ja nicht waren, hielten sich die Bauarbeiten eine ganze Weile und niemand wusste, wer da so einen Lärm machte. Ich glaube wirklich, dass sie selbst es auch nicht wussten. Vielleicht Trance. Der Russe muss Lärm machen, er merkt das selbst nicht.

So ging es eine ganze Weile und ich kam von dem Glauben ab, dass ich jeder Situation Herr werden könne. Ich habe viel über mich gelernt. Da der Russe selten solitär auftritt, wurden die Bauarbeiten immer wieder von Familienfeiern unterbrochen, bei denen sehr viel gesungen wurde. Ein riesen Spaß. Am schönsten singt man bekanntlich an der frischen Luft, und so wurde der Balkon ausgiebig genutzt. Auch zum lautstarken russischen Telefonat, wenn's drinnen mal zu laut war.
Der Russe ist zudem sehr ambivalent. Öllert er grade noch durch seine Höhle, erkennt man ihn im Hausflur kaum wieder. Besonders die Frau bekommt auf ein freundlich geschmettertes "Hallllooo!" höchstens ein Piepschen hin, was sie sich stets durch ein vorgehaltenes Taschentuch rausdrückt. Dabei blickt sie zu Boden.

Doch die harte Zeit sollte noch kommen. Denn sie gebar.
Mit den zwei Jahren habe ich jede Kinderkleidung, die das Sortiment von KIK hergibt auf meinem Balkon gefunden. Ich weiß nicht, ob es in Russland keinen Wind gibt. Anfangs ging ich immer noch nach oben und brachte Abgeworfenes zurück. Mit der Zeit und meinem steigenden Groll, ging ich dazu über, den Scheiß einfach ins Gebüsch weiter unten zu werfen. Erst empfand ich dabei Genugtuung, irgendwann wurde es aber völlig normal und half mir nicht mehr.
Auf meine Anfrage, ob es auch aus pädagogischen Gründen sein müsse, dass ein kleines Kind bis 4 Uhr morgens übt, wie man singend Möbel verschiebt, bekam ich wieder die Rehaugen und die Erklärung, dass das halt der Rhythmus von Mutter und Kind sei. So war auch dafür gesorgt, dass die Beschallung nie endete. Denn wenn die Trainingsstunden für künftige Nervensägen beendet waren, klingelte sein Wecker. Es war 5 Uhr und er musste duschen. Ich aß sehr viele Kopfkissen und hatte Gastriten.

Es folgte ein Defekt ihrer Gas-Therme. Ich fragte nach, was da die ganze Zeit so einen unfassbaren Lärm machte. Ich wollte nicht mehr rebellieren, ich konnte schon lange nicht mehr. Aber ich wollte zumindest nicht an meinem Verstand zweifeln!
"Unsere Therme ist kaputt", sagte er. Sie sprach nie. "Wir können uns nichtmal unterhalten in der Küche! So laut ist das! Immer, wenn wir das Wasser laufen lassen!"
Dass das dem Nacht-Baden der Frau keinen Abbruch tat, ist logisch. Wenn man duscht, hört man den Lärm in der Küche ja nicht. Und man kann sich eh nicht unterhalten. Schlafen ja alle.
Alle? Nicht alle. Ein kleiner Mann im Stockwerk darunter aß wieder Kissen. Es war der Dinge nun zuviel! Jetzt ist Alarm! Bis hier und nicht weiter! Ich mach die Alte mock!
Um 3 Uhr klingelte ich an der Tür. Im Bademantel und nassem Haar öffnete sie vorsichtig die Tür und steckte ihre Nase durch den Spalt. "SACH MA GEHT ET NOCH???!!!"
"Was denn?", fragte sie wieder. Aber nein, nicht dieses Mal!
"Es ist drei Uhr und Du duschst! Bist Du bescheuert? Weißt Du wie laut das da unten ist?!"
Da war endlich Regung in ihrem Gesicht. Und ich sah das Schimmern von ehrlich empfundener Empörung. Endlich Streit. Ich mag nicht zanken, aber was muss, das muss halt. Ich war gefasst.
"Wieso stört es sie wenn ich dusche? Es ist mitten in der Nacht! Sie sollten doch schlafen!"

Und wieder ging ich einfach weg.
Als ich seelisch gebrochen auf dem Fußboden meines Wohnzimmers saß, erklang von oben wieder der apokalyptische Tumult der Gas-Therme, der ihre Reinwaschung begleitete. Wie üblich noch etwa ein bis zwei Stunden. Sie musste sich sehr sehr schmutzig fühlen.

In meiner Verzweiflung rief ich die Wohnungsgesellschaft an, die mein Anliegen notierte. Und offenbar wegwarf. Als sich nichts tat, fing ich an, Emails an die Zuständigen zu schreiben. Erst sehr höflich, dann flehend. Dann täglich. Ich erhielt nie eine Reaktion.

Doch nun ... ist es vorbei.

Wie ich heute aus vertrauenswürdiger Quelle erfuhr, ziehen die Russen weg. Sie brauchen mehr Platz, hieß es da. Und deshalb zögen sie nun in einen anderen Flügel des Hauses. Genau über die vertrauenswürdige Quelle. Ich kann mich nicht so recht freuen, denn nun werden liebe Menschen leiden. Vielleicht wird es auch ein Blutbad geben. Doch all das wird dort geschehen, wo ich es nicht mitbekomme. Nicht weit weg, aber weit genug.