Tina Dico im Bahnhof

Tina Dico tut viel Gutes. Nicht nur, dass sie für Amnesty International schaffen geht, wenn sie grad mal nicht unfassbar eingängige Ohrbohrer von erster Kajüte komponiert, nein, sie hat mir ja quasi auch meinen Hasen beschafft. Mit "hör mal, kennse?" und einem iPod fing alles an.
Und weil Frauen so wichtige Details nie vergessen, kredenzte mir die meine ohn' jeglichen Eigennutz zwei Karten für Tina Dico, die wir gestern im Bahnhof Langendreer zu Bochum zur Einlösung brachten.

Verdammt, wir hatten es wirklich geschafft! Wir saßen ganz vorn, ja, ich konnte sogar die Füße bequem auf die Bühne legen und wurde nichtmal vom Personal dafür ermahnt. So lehnte ich mich zurück und ... musste mich auch schon wieder aufregen! Es ist ja mein Leben. Zum Weglaufen! Denn da vorn, da, wo die wahren Fans sind, da waren sie auch. Nämlich einer von denen, die man auf jedem Konzert zu treffen verdammt ist, denen man schon an der Frisur ablesen kann, dass man sie gleich hassen wird ...
"Jaha, gestern war ich schon bei Heather", protze er stolz seinen Sitznachbarn an und meinte wohl Heather Nova. "Die Heather is ja mit ihrer ganzen Family unterwegs, weisse. Hier, die hat ja ihren Mann da und ..." ach, was soll ich es alles wiedergeben. Er sei vorgestern auch schon bei der Tina gewesen. So wie vorvorgestern. Was wohl Heather sagt, wenn er dauernd bei der Tina rumhängt? Wahrscheinlich ist sie sehr froh.
Sein Sitznachbar wusste aber zu kontern. Der, der so aussah, als gehöre er zur Familie Ludolf, die ihn im Fernsehen allerdings berechtigt nicht dabei haben will, hatte eine Tüte dabei, in der er die Heimausdrucke seiner Fotos vom Vorabend mit sich herum trug. Von Tina. Da war er vorgestern auch schon. Hmm, lecker Tina. Schön nah dranne, hmmm. "Ah!", rief der Kumpel von Heather, "dann gehörte der zu Dir, der mir die ganze Zeit vor der Nase rumstand da mit seiner Kamera! Das soll er heute aber nicht machen!" Peinlich berührt widmete sich der Gescholtene seinem Mikrofon, das er zwanzig Minuten lang total heimlich an seiner Jeansjacke antüddelte, aus der dann eine meterlange Kabelschlaufe herausstand. Als er fertig war, kam der Bühnenanweiser, der sich das Schauspiel wohl auch erst ansehen wollte, und untersagte ihm heimliche Mitschnitte.
Und da stand er auch schon. Der offensichtliche Bruder vom Ludolf. Auch er sah aus wie hingeschissen, und wir wussten ganz genau, was die beiden mit den Fotos von Tina zuhause tun. Um ihm gleich klarzumachen, dass das mit dem Vor-der-Nase-Rumstehen auch bei mir nicht zur Freude gereicht, legte ich mein Bein wieder auf die Bühne, um ihm seine Grenze aufzuzeigen und schenkte ihm einen Blick, der ihm klarzumachen schien, dass er schlimm stürzen wird, wenn er nervt. Er bewegte sich den ganzen Abend nicht über die magische Schwelle, obwohl er mich mehrfach bettelnd ansah. NEIN!

Dann ging das Licht aus und ich wollte all das vergessen.

Die Vorband bestand aus einem hageren Typen mit schiefen Zähnen, der dringend mal was essen sollte. Er hieß Nils Holgersson oder so und sei in Tinas Band, dürfe aber zum Aufwärmen seinen eigenen Kram zum Vortrag bringen. Das tat er auch nachdrücklich. "It's ooooooooooooooonnn!!!!!!! It's ooooooooooooffffffff!!!!!!!!!!" waren die einzigen Worte, die er immer wieder rief und damit das Bochumer Publikum sichtlich irritierte. Was ist on und off? Er verriet es nicht. Wenige Minuten später hatte er uns allerdings im Sack. Der, der mit eigentlichem Namen (ich recherchierte das später) Helgi Jonsson heißt und auch genauso aussieht, bewies Humor, als er mit gebrochenem Deutsch seinen nächsten Titel anzusagen versuchte. Er gab sich redlich Mühe, unserer Muttersprache Herr zu werden. Das allein ist nicht witzig. In der Tat witzig fand ich, dass er den nächsten Song in allerfeinstem Österreichisch ansagte. "Verstehns mi, wenn i Deutsch red?" Wunderbar!
Wunderbar war allerdings auch die musikalische Darbietung des Isländers mit Wohnsitz in Österreich. Meine Fresse! Dachte ich nach der Einleitung noch, dass das hoffentlich schnell an uns vorübergeht, saß ich in den nächsten 20 Minuten sehr stramm da und erwischte mich einmal mit offenem Munde. Das letzte Stück beendete er mit einem Zupfmuster auf der Gitarre, bei dem er grob versagte. Er brach es kichernd ab und gab zu, dass es sein Vater gewesen sei, der dies auf der CD eingespielt habe. Ob das nun gespielt war oder nicht, sei dahin gestellt. Sympathisch war es allemal. Mein lieber Herr Gesangsverein. Der Applaus, der ihn von der Bühne geleitete, zeigte, dass nicht nur ich so dachte.

Und dann kam er wieder. Hinter Fräulein Dico und dem dritten im Bunde, Dennis Ahlgren, der ebenfalls sehr zurückhaltend aussah und sich ebenfalls als Musiker von ganz weit oben herausstellte. Dass die zwei Jungs so lumpig daherkamen, war vielleicht das Konzept der Dico im Kleid. Für mich ging es nicht auf, denn das "kleine Schwarze" am Leib der Sängerin hätte auch von KiK stammen können. Ich kam etwas ins Grübeln, da ich doch der Meinung war, dass sie ein wenig faltig um die Augen sei. "Die is fünf Tage älter als ich! Guck mal wie alt die wirkt!" "Du bist bescheuert", war die Antwort, die weitere Worte sinnlos machte. Was meiner Liebsten ebenfalls entging: Die Dico geht wie ein Bauer! Vielleicht waren's die Schuhe. Ich weiß es nicht. Doch es nahm ein bisschen den Zauber.

Über zwei Stunden gab es allerdings Zauber vom Allerfeinsten. Wie drei Leute derartig dichte Atmosphäre schaffen können, indem sie immer wieder zwischen Klavier, Posaune, Gitarren und Schlagzeug hin und her hopsen, war für mich wesentlich beachtlicher als die atomgenaue und überirdische Spielpraxis von Porcupine Tree, die ich zuletzt sah. Jaja, der Vergleich hinkt auch völlig, aber Feeling ist Feeling. Und davon war die Hütte voll. Zwischendurch hatte man immer mal das Gefühl, einer Jam-Session beizuwohnen, bei der die Musiker seit zweihundert Jahren aufeinander eingespielt sind. Keine Spur von gebuchten Mitarbeitern. Man hätte die Augen schließen können, um sich dem hinzugeben, aber das Gezauber von Ahlgren und Nils Holgersson war zu hübsch anzusehen. Der Hase drückte sich indes ein oder zwei Tränchen weg.

Den Abschluss gab Tina allein und verbaselte sich zum Ende selbst ein bisschen, was nur zeigte, dass sie wirklich selbst spielt. Durchweg ne glatte Eins! Und das für 22 Euro. Da gehnwe wieder hin! Die einzige Frage des Abends war nur: Wo ist der Jens? Dem hätt' das Spaß gemacht.



Danke, Krümel! You glow in the dark!

Eigene Fotos gibt's auch, aber da kommt wieder wer nicht ins Netz, um sie mir zu schicken.