Warburg. Ein Kleingartenverein.

Warum ich behaupten kann, dass Warburg ein Kleingartenverein sei? Nun, weil ich selbst innerhalb eines solchen aufwuchs. Ich weiß nicht, wie groß Warburg ist – gefühlt ist es sehr klein. Und davon soll meine Geschichte handeln.

Ich bin kein Reisefreund. Ich krieg da immer Durchfall bei und dann ist kein heimisches Klo in der Nähe. Dennoch trieb es mich mit einer kleinen Delegation unserer Freundesrotte am vergangenen Wochenende über weite Felder, kurvenlose Autobahnen, unbefestigte Trampelpfade und durch dichte Wälder in dieses putzige Dorf, und, wenn ich schon nicht für alle sprechen mag, zumindest ich erwartete das Schlimmste. Das ist, nebenbei bemerkt, eine wunderbare Eigenschaft, denn man kann nicht enttäuscht werden, ja, man wird sogar oft positiv überrascht.

Schon der Blick von der Autobahn machte klar: Hier werden auch Nutztiere vernascht. Die sehr vereinzelt aufgestellten Scheunen und Holzhütten, die die unaufregende Landschaft prägen, zeigen auf, dass es hier unmöglich genügend Geschlechtspartner mit fremden Genen geben kann.

Doch, oha, hat man sich überwunden, doch abzufahren, erschließt sich einem ... nix. Auch nach Minuten auf der wieder sehr geraden Landstraße, die da mal irgendwer hingeteert haben muss, sahen wir nur ein anderes Auto. Es lag mit zersplitterter Frontscheibe am Straßenrand. Ich dachte unverzüglich an Filme wie "The Hills have Eyes". Beide Teile. Halt hier nicht an! Das Tageslicht ist trügerisch!

Aber es war gar nicht so schlimm. Hat man den Bretterwall, der zum Dorf führt, einmal passiert, ist alles ganz anders. Warburg ist tatsächlich eine Kleingartenanlage. Die Einfamilienhäuser stehen Spalier an verwundenen Straßen ohne Mittelstreifen und werden von keinem Motorenlärm gestört. Man kann alles zu Fuß tun. Der Blick von einer kleinen und einzigen Anhöhe des Dorfs verspricht zudem: Hier kommst Du nicht mehr weg. Drumrum nur Wüste. Und inmitten der Wüste stehen vereinzelt Wachtürme. Das Dorf selbst ist eine Geisterstadt. Kein Mensch bewegt die Luft, das Knarzen der eigenen Schuhe kracht bei jedem Schritt ohrenbetäubend in das trügerische Idyll. Knarz. Knarz. Ich hatte Angst.

Doch am komplett gefachwerkten Marktplatz, dem Dorfzentrum, angekommen – kreischender Lärm! Da waren sie alle! Kinder, Ausgewachsene, Untote an rostigen Rollatoren. Irgendwo in der Menge stand einer in mittelalterlichem Zwirn und brüllte die Leute an. Ich verstand weder warum noch was er sagte. Ein Meer aus Bauern, die Bier tranken und sich kaputtlachten, weil der mit dem Mikrofon sie zu erfreuen schien. Mir schworr schon wieder ein Film durchs Oberstübchen ... irgendsoein Zombie-Streifen, hab vergessen wie er hieß.

So schlimm wie geschildert war's aber gar nicht. Es wurde nur schnell klar: hier kannten sich alle. Und das bekräftigte einige meine heimlichen Vermutungen. Die Alten saßen an Tischen und tranken sich dumm, etwas jüngere standen drumrum und tranken sich dumm, und die Jugend tanzte als sei sie dumm. Ich bin mir sicher, dass es bei uns im urbanen Raum keine Jugendlichen (nicht Kinder) gibt, die auf einer Bühne ausgefeilte Choreografien zu Kinderliedern tanzen und sich dabei wie jeck freuen. Das Risiko nie wieder gutzumachenden Imageschadens wäre bei uns einfach zu hoch. Nicht so in Warburg. Es kam mir vor wie ein Initiationsritus: Wer drei Jahre wie doof tanzt, darf fortan mit rumstehen und sich doofsaufen.
Aber ich darf nicht verschweigen, dass es auch Randgruppen zu sehen gab. Nur halt in wesentlich kleineren Gruppen als in der industrialisierten Welt. So kam mir einer unter, der mit Lederjacke, grüner Plastiksonnenbrille und MANOWAR-Rückenaufnäher ein wunderbares Metal-Fan-Imitat gab. Er war wahrscheinlich der Band zuzuordnen, die aus einem langhaarigen Musikschullehrer und seinen vier Schülern bestand, die die Moves einschlägiger Metalbands täuschend echt nachzuahmen vermochten. Einen sah ich, der sich die Haare kurz hielt und mit schwarzer Lonsdale-Jacke eine andere Jugendkultur verkörperte. Nur die Mädchen, die nicht auf der Bühne hopsten, waren alle gleich. Alles scheinbar Töchter von Ärzten im typischen sylter Nobelzwirn und, was mich sehr verstörte: alle scheinbar gleich alt.

Was das Treiben ebenfalls sehr vom Ruhrgebiet unterschied, war ein herrlicher Friede, der trotz des Affenlärms über dem Dorf lag. Kein Gepöbel, kein Gesocks. Wahrscheinlich, weil die, die betrunken genug waren, stante pede am Tisch zusammenbrachen. Auch sah ich in dieser Nacht das erste Mal die Milchstraße. Schön.

Wir kämen bestimmt gern wieder, wenn ich nicht diesen Text geschrieben hätte. Ein Hoch auf Warburg! Hätte ich einen eigenen Hubschrauber, würde ich nach Warburg ziehen.