Wunderbar! Ein Violinen-Konzert in einer Kirche ist nur durch ein Klavier-Konzert in einer Kirche zu schlagen. Was allerdings jedes Klavier-Konzert lang schlägt, sind vier Violinen in vier den vier Ecken der Kirche! Man nennt dies wohl Quadrophonie, wenn ich mich recht entsinne, und es schickt jedes Stereo-Erlebnis müde lächelnd in die Ferien. Die Musiker nennt man Violet Quartet. Zumindest, wenn sie Musik machen.
Die Zuhörer lagern in der Mitte. Auf Stühlen, Decken oder Kissen - und das Schönste ist: ich muss dem intimen Treiben nicht beiwohnen, weil ich den Auftrag habe, das Ganze filmisch festzuhalten und deshalb hübsch am Rand bleibe.
Der ältere Herr, den ich inmitten des kuscheligen Gelages zusehen darf, wirkt dort einigermaßen fremdartig und scheint sich auch genauso zu fühlen. Im Laufe des Abends wird er sich indes dran gewöhnen und ich gönne ihm von Herzen diese Abwechslung. Den Plan finde ich aber großartig und die Musik habe ich an diesem Abend noch vorbestellt (weil sie noch nicht zu erwerben war). Es weiß ja niemand mehr, dass Keyboards klassische Instrumente imitieren und nicht andersrum.
Heute lerne ich allerdings, dass es nicht nur toller klingt, wenn klassische Instrumente von klassischen Instrumenten vorgetragen werden, sondern auch, dass Synthie-Sounds aus klassischen Instrumenten so ziemlich alles wegbomben, was ein Synthie so zustande bringt. Und so stelle ich die Kamera zwischendurch mal auf Durchzug und lass mich ein Stück mitnehmen, indem ich die Augen schließe.
Ich treffe das beängstigende Gewaber und die weiten Klänge von Pink Floyd, die tonale Gewalt von Peter Gabriel und feine perkussive Einlagen, die ich ganz sicher von Geigen nicht erwartet hätte. Und ganz bestimmt traf ich noch mehr, aber ich kenn ja nicht so viel. Dichte Kompositionen, mit technischer Brillanz vorgetragen. Ein Fest fürs Ohr. Die Kuschelmeute ist tatsächlich still und lauscht andächtig. Kaum eine Welle wellt den See aus Liegenden und Sitzenden. Und alle halten still. Sogar die Kinder. Schön. Still. Still.
Doch was ist das? Eine Frau am Ende ihrer 30er mit teilgeflochtenem blondem Stroh-Haar, gebatiktem Rock-Imitat und diesem gewissen "Ich liebe alles"-Blick liegt barfuß, in der Menge. Ich werde auf sie aufmerksam, weil sie ihre Hände gen Decke streckt und in emsiger Kurvenfahrt die bunten Bilder einfangen will, die sie zu sehen scheint. Sie ist kurz davor, ich weiß es! Sie wird es nicht lassen können. Und kurz bevor ich bei "3" angekommen bin, steht sie auch schon auf und reißt ein klaffendes Loch in den Teppich aus Frieden, den uns allen hier diese Musik sanft über die Köpfe legt. Und sie tut, was sie tun muss. Sie tanzt. Sie tanzt wirbel- und würdelos, wie es nur die können, die täglich Castaneda-Bücher rauchen und mit gekochten Eiern reden. Weil sie aber leider so ein rückgratloses Geschöpf Gottes ist, das jedem Aal die Scham ins Gesicht treiben würde, und sie deshalb nichts dabei findet, mit ihrem Gehampel dem ein oder anderen Menschenkind den Genuss zu vergellen, zerbricht sie dabei nicht. Sie durchstreift federleicht den Raum und kommt, wer hätte es nicht schon erwartet, neben mir zum Stillstand. Wenn Scheiße magnetisch ist, bin ich aus Blech. Ihren seligen Blick, der nach Aufmerksamkeit brüllt, möchte ich gern mit dem schweren Stativ an die Kirchenwand nageln, doch ich will nicht auch noch stören. Ich muss ja auch arbeiten hier.
Und so hockt sie sich neben mich. Sie hat ihren Restgeist freigetanzt, auf dass er durch's Fenster entweiche und in den Wetterhahn fährt, der jetzt quietscht. Sie kniet breitbeinig, ihre Füße zeigen nach außen und ihr Beckenboden schleift feucht das Parkett, auf dem ich vor Beginn noch Tee verplemperte. Sie ist angekommen im Froschhimmel. Dort, am güldnen Dümpel-Tümpel, wo alle ganz frei, ganz Mensch sind. Und ich hoffe so sehr, dass sie dort bleiben möge. In Ewigkeit. Amen.