Vom Erlernen der Weitsicht.

Von "fahren" kann man nicht mehr sprechen, sobald eine Schneeflocke gesichtet wurde. Vielen, ja den meisten, ist nicht klar, dass es höchst unwahrscheinlich ist, auf gerader Strecke plötzlich seitlich in den Tod zu rutschen. Höchst wahrscheinlich ist es indes, dass die knapp 70 Autofahrer hinter dem stur auf sein Recht auf Angst Beharrenden, komplett ausrasten. Ich rede hier nicht von innerstädtischem Verkehr, sondern von Landstraßen, die irgendwann aufgrund der Erdkrümmung am Horizont verschwinden und fern jeder Fußgängeraktivität sind.
Meine Lieblingsdisziplin ist "Steigung". Hier wird klar, dass der Mensch als solcher gar nicht zum Führen eines Kraftfahrzeugs geeignet ist, weil ihm einfach Kontrolle und vor allem Logik vollends abgehen. Gehen wir davon aus, dass es mal wirklich glatt ist. Vor uns liegt eine Steigung, die wir nehmen müssen, um im trauten Heim Wärme zu finden. Immer, wirklich IMMER finde ich mich HINTER einem wieder, der mit möglichst geringer Geschwindigkeit den Berg RAUF will! Vielleicht, weil er meint, er bekäme mehr Bodenhaftung, wenn es unter den Reifen taut. Es ist zum aus der Haut fahren!

Heute allerdings wurde ich für's Hinterhertuckern belohnt. Wie ich so durch die Vorstadt rolle, werde ich einer Horde Jugendlicher gewahr, die grad am Straßenrand so richtig lustig ist. Coole Typen halt, grade Schule aus, Manga-Frisur, Ische dabei, alles klar. Trotz der Reife, die ich an ihren Frisuren ablesen kann, haben sie einen Mordsspaß mit Schneebällen. Und als sie den Bagger auf meiner Gegenfahrbahn sehen, wissen sie eines: Dort ist das Ziel! Also allemann nen Schneeball in die Hand und ab dafür! Ein riesen Schabernack! Paff! Peng! Schepper! Ich, der grade auf gleicher Höhe tuckere, bin beeindruckt vom Lärm des Bombardements. Das Gejohle der Jungmänner sagte mir, dass alle Bälle getroffen hatten.
In das Freudengeschrei mischten sich aber plötzlich andere Geräusche. Es waren die Bremsen des Baggers und die panisch rutschenden Reifen des Autos dahinter. Das Jubeln brach jäh ab, als ein völlig untypischer Baggerfahrer aus der Kabine stürmte. Dieser war nicht so wie man es kennt. Er war nicht dick und durch Suff dem Tode nahe. Er war jung und athletisch. Und sehr erregt.

Die schlimmste Form von Aggression ist nicht die Raserei. Ein kopfloser Gegner ist nicht so wild. Das Zusammenspiel von innerer Ruhe und zügiger Entschlossenheit indes macht klar: Jetzt gibt's auf's Mett, und zwar nicht zu knapp. Eben letztere Haltung war dem Bauangestellten deutlich anzusehen, als er mit erhobener Faust dem ersten Werfer das Revers zerknitterte. Er wusste genau was er tat.

Meine Chronistenpflicht findet hier ein abruptes Ende. Es tut mir leid. Herzliches Lachen und bittere Verzweiflung kämpften in mir, denn ich konnte dort verkehrsbedingt nicht bremsen. Ich schwöre, dass ich nicht geholfen hätte, aber allzu gern hätte ich vom Ende und vom Lerneffekt berichtet. Schade.

1 Response to "Vom Erlernen der Weitsicht."

  1. tricky_r Says:

    Für derartig tiefenpädagogische Fachkräfte sollten als Maßnahme zur Dezimierung des Personalmangels hiesiger Berufsgrundschuljahresklassen Raum geschaffen werden. Dort sind solch von Weisheit und Lebenserfahrung berichtende Frisuren ebenfalls weit verbreitet....!
    Kann man eigentlich Baggerfahrer als Studeinfach belegen---?