Das Ende eines Lebensabschnitts

Es ist 7:25 Uhr an einem diesigen Donnerstag im Juli. Ich sitze auf dem Balkon, trinke Kaffee und rauche meine erste Zigarette. Das ist nicht ganz einfach, da ich furchtbar Schluckauf habe. Zudem muss ich furzen wie blöd, weil ich mehr Luft als Nahrung schlucke, was an den Halsschmerzen liegt, die mir den Genuss etwas vermiesen. Doch es sind die Schmerzen der Glückseligkeit. Ich könnte natürlich auch eine Schmerztablette nehmen. Aber erstens wäre das Feeling dann weg und zweitens würde das nur die Blähungen mehren. Ich bin glücklich.

Vor vielen vielen Wochen begann es. Eigentlich begann es noch viele Jahre früher, vielleicht schon in früher Kindheit, aber das würde die Sache jetzt komplizierter machen und die Dramaturgie wäre hinüber. Jedenfalls kam es, dass ich bei meiner Kollegin im Büro stand und um Schmerzmittel bat, da ich sonst sicher gleich ins Koma fiele. Sie halfen kaum. Ich ging nach Hause und versuchte, den Zahn mittels Schlaf zu beruhigen. Es ging schon wieder. Doch das Wochenende war von dauernden Zahnschmerzen erfüllt, und jeder weiß: Zahnschmerzen können einem echt die Laune vermiesen.
"Geh zu meiner Mutter", sagte der Fussel zu mir. "Die hat selber Angst vorm Zahnarzt und ist total vorsichtig!"
Ich schenkte ihm Glauben und ging.

Auf die Frage, was sie für mich tun könne, berichtete ich, dass ich finale Schmerzen habe und sie auch gleich wüsste warum, wenn sie sich meine Kaugeräte anschauen würde. Zumindest die hinteren. Es sei nämlich über fünf Jahre her, dass ich eine zahnärztliche Praxis aufgesucht hätte. Und das hätte auch so seine Gründe. Sie verstand ohne Rückfrage und kümmerte sich alsbald nur um den schmerzenden Übeltäter. Und erstmal nicht um den Rest, was mich sehr beruhigte. Das "oh oh" und "mhmh" und sorgenvolle "hmmmm", was man beim Zahnarzt so hasst, ließ sie bleiben, womit sie mich gewann.

Nach der geglückten Behandlung bekam ich pro forma sechs (sechs!) neue Termine, um die nötigsten Dinge zu erledigen. Ich war schonmal so weit. Es war in der Tat sechs Jahre her. Alles war tutti, doch meine damalige Dentistin merkte mit einem sorgenvollen Blick an, dass wir nun an die zwei verbleibenden Weisheitszähne ran müssten. Och, die gucken ja schon raus, sagte ich, das könne ja so ne dicke Sache nicht sein im Vergleich zu der Wurzelbehandlung. Die beiden Weisheitszähne oben habe man ja auch pflücken können wie nen Schnorchel aus nem toten Taucher. Sie antwortete, dass das vielleicht doch etwas schwieriger werden könne im Unterkiefer. Und sie vermute ferner, dass der Zahn, den wir nun dreimal wurzelbehandelt hätten, wahrscheinlich eine Wurzelspitzenresektion benötige, damit er Ruhe gäbe. Da ich doof guckte, erklärte sie: man ginge da an der Seite an den Zahn. Zahnfleisch wegklappen, durch den Knochen zur Wurzel, und dann ein Stück davon wegknuspern, damit Platz sei und die Entzündung sich vertschüsse. Ich ging nie wieder da hin.

Und nun saß ich da bei Fussels guter Mutter. Sie hielt die frisch geknipsten Röntgen-Bilder in die Luft und sprach: "Ich glaube, da oben hinten ist eine Zyste an der Wurzelspitze. Kann sein, dass die Ärger macht. Von den Weisheitszähnen brauchen wir ja nicht reden. Die müssen eh raus. Aber das kümmert uns jetzt erstmal nicht.
Und so behandelte sie vor sich hin und da ich mindestens einmal die Woche da war (es wurden dann zehn Termine), fühlte ich mich langsam heimisch auf dem Horror-Hocker. Tatsächlich freute ich mich manchmal nach der Arbeit drauf, mal die Fresse halten zum müssen. Und so kam eins zum anderen und die Schnauze war wie frisch gestrichen. Da sie immerfort röntge wie doof, fand sie zudem leider noch ne Zyste an einem anderen Zahn, den mir mal ein Dorf-Zahnarzt in Iserlohn-Hennen mit scheinbar besoffenem Kopp im Stehen überkront hatte und den Karies darunter vergaß. Und da kam der Moment in meinem Leben, in dem die Mauer fiel:
Ich nahm mir ein Skalpell, ritzte mir den Finger auf, bemalte mein Gesicht mit Blut und rammte mein Schwert tief in den Praxisboden! "Hier soll der Sache Genüge werden!", schrie ich, unsicher ob die Grammatik da so stimmte. Aber es klang gut. "Ich werde hingehen und diesem Frevel ein Ende bereiten! Tod den Phobien! Sie sollen den Weg alles Irdischen gehen und zwar im Spülstein eines Krankenhauses!" Ich lachte hysterisch, setzte mich wieder hin und vereinbarte einen Termin für eine professionelle Zahnreinigung, um mit gestähltem Zahnwerk dem Chirurgen gegenübertreten zu können.

Über Wochen musste der Termin verschoben werden. Ich hatte Schmerzen, obwohl es nicht hätte sein können. Die gute Ärztin suchte und suchte, fand aber nix mehr. "Mach den Zahn da weg! Oder Wurzel raus, mir Wurscht! Aber mach! Ich geh kaputt!" Sie weigerte sich. Da könne ja jeder kommen. Ich solle das aushalten jetzt. Und Elmex nehmen. Und ab ins Krankenhaus. Da würde die Lösung vielleicht gefunden werden.

Also gab ich mir den finalen Ruck tatsächlich, begab mich zum Kiefer- und Gesichtschirurgen (und dachte kurz drüber nach, dass in meinem Gesicht so einiges nicht gefällig ist), der mir direkt nen Termin im Krankenhaus machte, um mich dort zu bearbeiten. Ich entschied mich für die große Rundfahrt, weil ich nicht das zarte Pflänzchen meiner Selbstsicherheit und Angstfreiheit wieder zertrampeln lassen wollte, in dem ich mir Stück für Stück den Horror antäte. Man erklärte mich mehrfach für bekloppt, mir alle vier Quadranten in einem Haps möblieren zu lassen, doch die Meinungen Unbeteiligter sind mir seit Jahr und Tag sehr gleichgültig.

Am Abend vor der Operation rief der Arzt an und sagte ab. Seine völlig beknackten Arzthelferleinchens hatten trotz mehrfachen "war das jetzt wirklich alles?" meinerseits vergessen, mich zum Anästhesie-Gespräch zu ordern. Unerlässlich für eine Narkose, denn wer weiß, wer der Blöde ist, wenn ich nicht mehr aufwache. Das muss ja geklärt sein. Eine Woche später rief man mich wieder an und nannte mir den Termin für eben dieses Gespräch. "Am 25. So ab 14 Uhr". Was denn da passiere, fragte ich. "Ja das ist so wie vor jeder OP." Ich merkte, dass ich wieder die gleiche Punze am Hörer hatte, die mir schon vorher alles versaut hatte. "Entschuldigen Sie meine Unkenntnis als Amateur-Operierter ... WAS ist denn da so vor jeder OP?"
"Na, dieses Gespräch. Da gehen Sie einfach hin."
Ich gab auf und ging einfach hin. Arzthelferinnen sind das A und O. Vor allem das A. Und mache können es einfach nicht und sollten besser Brötchen verkaufen. Die Betäubungs-Professionelle im Krankenhaus war nicht so eine. Sie war derart unfreundlich, dass sie niemals auch nur ein Brötchen verkauft hätte. Für jemanden, der die Hose echt voll hat, ist das relativ unangenehm. Auch hier bekam ich nicht die Infos, die ich gern bekommen hätte. Zum Beispiel die Information über die Kosten der Narkose. Die Krankenkasse weigerte sich nämlich standhaft, mir eben diese zu bezahlen. Ich könnte ja auch alles einzeln mit lokaler Betäubung erledigen lassen. Das würde sicher unterm Strich mehr kosten, aber es müsse kein extra Betäuber anrücken. Auf meine Frage, was das nun koste und wann ich das zu begleichen hätte, bekam ich die Antwort, dass das Dinge seien, die sie als Betäuberin nicht interessieren würden. Sie fuhr weiter fort, mir den Ablauf zu erklären, nachdem ich sie damit sichtlich nervte. "Sie bekommen dann eine Maske auf ... oder haben sie da auch Angst vor?" Ich entschied, das nicht weiter zu erläutern, unterschrieb das Testament und ging.

Am Morgen vor der Operation war ich seltsam gelassen. Ich wusste wohl, dass es eine Spritze gäbe, die mich wegdämmern lassen würde und ich erinnerte mich an die Magenspiegelung vor vielen Jahren, bei der eine ähnliche Spritze wirklich toll war. Es ist, als würde in einer Sekunde die ganze Last des Lebens von einem abfallen. Herrlich. Und so freute ich mich fast drauf. Erst so ne herrliche Spritze, dann aufwachen und nie wieder Scheiße mit den Zähnen. Meine treue Begleiterin musste sich etwas mühen, meinen Enthusiasmus zu teilen. Aber ich wollte mir das nicht nehmen lassen. Als ich mein OP-Kostüm übergeworfen hatte, verlangte ich noch danach, ein paar spaßige Fotos anzufertigen. Komisch: Ich hatte wirklich keinen Schiss. All die Jahre des Schmerzes und der Angst … und nu? Die Schwester kam und legte mir die Drainage in die Hand. Der Zugang zur Glückseligkeit. Und dann ging es los Richtung Operationssaal. "Mooooment!", warf ich ein. "Erstmal will ich hier ausgeschaltet werden, Freunde!" Ich lobte das prima Fahrgefühl in dem Bett, merkte aber wiederholt an, dass ich den Schlachthof nicht sehen wollte. Doch man ignorierte mein Bitten. Schlimmer noch: Man parkte mich vor dem OP, in dem noch die Gedärme der Vorgänger aufgewischt wurden. Jetzt erlaubte ich mir doch einen Moment des Unbehagens. Eine polnische Putzfrau quäkte hinter der Tür, verstummte, lugte auf den Flur und lachte mich an. "Aha! Da liegt ja einer! Und der ist noch wach. Hihi."
Wunderbar. Ich fühlte mich wieder besser. Kleine Späße machen das Lebens schön. Dann ging es allerdings wirklich rein. Allerdings war ich überrascht, dass es hier gar nicht aussah wie im Fernsehen. Gut, da stand ein Bett mit vielen Lampen drum und es war mehr Platz als sonst im Schlafzimmer, aber an sich war es doch mehr ein Behandlungsraum wie jeder andere.
Man bat mich, die Hinrichtungsstätte selbst zu erklimmen. Ich dürfte meine Bettdecke aber mitnehmen, was mich sehr beruhigte. Wie ich noch versuchte, es mir bequem zu machen, fummelte es mir an der Hand und mir wurde sehr blümerant. In der Tat war es nicht ganz so schön wie in der Erinnerung. Ich wurde plötzlich so schwer, dass ich dachte, der Tisch müsse unter mir zusammenbrechen. Und dann drehte sich plötzlich alles. Unschön, dachte ich. Sehr unschön. Dann sah ich aus dem Fenster auf einen Kirchturm. Der Tod kommt.

Eine Frau sagte zu mir, dass ich nun schon dreimal gefragt hätte, sie mir aber kein Wasser geben dürfe.

Dann saß der Arschhase wieder neben mir. "Alles noch dran", sagte sie, als ich mich dabei erwischte, ihren Busen zu mööpen. Sie hätte gefragt, aber die Schwester hätte zum vierten Mal das Wasser verweigert.

Wieder der Kirchturm. Schöne Aussicht.

Jemand schiebt mir einen nassen Schwamm in den Mund. Ich nuckle. Alles blutig.

Kirchturm.

Ich sehe Pappherzen am Fenster und berichte, dass diese eigens für mich dort installiert worden seien. Und warum ich immer noch keinen Kaffee bekäme.

Der Arschhase sitzt neben dem Bett und berichtet, dass die Narkose über die Krankenkasse liefe, weil der Chirurg doch wesentlich mehr tun musste als geplant war. Ich singe "Willy Wonka, Willy Wonka …", strample dabei, weiß nicht warum und schlafe wieder ein.

Wieder der Kirchturm. Halsschmerzen. Ich begreife: es ist schon vorbei. "Wie fühlen sie sich denn?" Ich frage nach Kaffee und Zigaretten. Eine Antwort bleibt aus. An sich ist es sehr kuschelig in diesem Bett. Ich beschließe, noch ein wenig zu bleiben und schlafe wieder ein. Irgendwie weiß ich noch gar nicht so recht, was ich hier mache. Aber es ist ok. Irgendwas war geschehen und es war gut.

Ich wache auf und begreife. So. Nu ist aber gut. Ein wenig mit den Beinen rudern und der Kreislauf ist wieder voll da. Komm, aufstehen, mal nach Hause jetzt. Ich stehe auf und der Kreislauf bleibt liegen. Wieder hinsetzen. Ich habe immer noch das durchsichtige Netz-Unterhöschen an, was ich stolz präsentiere. Ein paar Minuten später finde ich mich in aufrechter Haltung vor einem Schrank wieder, in dem meine Klamotten lagern. Ich stelle mich auf ein Bein, um mich anzukleiden und falle nicht um.

Man bittet mich, noch kurz auf die freundliche Betäuberin zu warten. Im Sitzen bitte. Ich hole mir Kaffee und setze mich. Sie kommt, guckt mich an und fragt nach dem Befinden. Zur Sicherheit frage ich sie, ob ich klar auf sie wirke. Ich selbst vermag das nicht zu sagen.

Wir gehen. Auf dem Weg zur Tür verabschiede ich mich von der netten Schwester und erzähle ihr, wie das alles kommen konnte. Sie verabschiedet sich. "Und immer zum Zahnarzt gehen jetzt!", mahnt sie. Ich verspreche es.

Draußen wackle ich die ersten Schritte bis zum Auto, mit der einen Hand am Hasen und der anderen an meiner wohlverdienten Zigarette, die ich mir in den blutigen Mund stopfe. Das hab ich mir verdient. Langsam wird mir klar, was vorgefallen war. Ich hatte es getan! Himmel Arsch und Zwirn!

Nachdem der Hase mir zum vierten Mal erzählen musste, was der Arzt ihr erzählte, rekapitulierte ich:

Ich, der Oberschisser des Abendlandes … ich! Der sich Jahrzehnte mit Zahnschmerzen und Sorgen über eine faulige Stumpenzukunft herumschlug! Ich hatte mir die Zähne versorgen lassen. Ich hatte sie mir reinigen lassen. Und ich hatte mir den Kieferknochen aufbohren lassen. Und Zwei zähne ziehen lassen, von denen einer doch vorher zertrümmert werden musste. Die steten Zahnschmerzen ohne ersichtlichen Grund hatten ihre Ursache in einem völlig vereiterten Kieferknochen, der nun versorgt und rein wie die Mutter Maria war. Hosianna! All die Sorgen! Weg! VERPENNT! Warum nicht schon viel früher? Wer hätte das gedacht? Ich zog an meiner Zigarette. Und war glücklich.

Erst zuhause begriff ich wirklich, dass ich gar keine Schmerzen hatte. Außer im Hals. Vorsorglich nahm ich eine der empfohlenen Schmerztabletten, aber es war wirklich die erste und letzte. Es ist irre. Erst als ich mit der elektrischen Zahnbürste etwas zu forsch vorging, spürte ich wieder, dass ichs nicht zu bunt treiben sollte in den nächsten Tagen.

Nun sitze ich auf dem Balkon. Die gesparte Vollnarkose kann nun anderweitig ausgegeben werden. Also geht's gleich in die Stadt, um eine neue Waschmaschine zu ergattern. Morgen muss ich nochmal zum Knochenklempner. Ich werde mich kurz über die Macke am Schneidezahn beschweren, die da vorher nicht war. Aber ich werde dankbar sein. Vor allem mir selbst.



Geht zum Zahnarzt! Er ist Euer Freund! Auch, wenn ihr lang nicht wart. Es gibt nix dolleres als Käsekuchen und Steak.
Man könnte meinen, dass die Überschrift etwas übertrieben ist. Ist sie aber nicht.


1 Response to "Das Ende eines Lebensabschnitts"

  1. JB Says:

    Ich staune immer wieder wie ähnlich wir uns sind.